Labyrinth Venedig

Das undurchschaubare Labyrinth

Das rätselhafte Venedig enthüllt sich phasenweise nur demjenigen, der bereit ist, ein Risiko einzugehen. Jenes nämlich, Streifzüge durch die Stadt ohne Stadtplan oder sonst welche neumodischen Orientierungshilfen zu unternehmen. Ehrlich: Kaum etwas ist peinlicher, als jene Touristen, die den Blick fest aufs Navi am Handy gerichtet haben anstatt auf den Weg, den sie nehmen. Deshalb an dieser Stelle: In Venedig ist man in keiner Wüste, in keiner Riesenmetropole und auch nicht in einem sonst irgendwie gefährlichen Terrain (keine Tiger, keine Wölfe, keine Dinosaurier). Venedig ist eine kleine Stadt, niemand kommt abhanden. Und die wenigen tapferen Venezianer, die noch in ihrer Stadt leben, danken es, wenn man ihnen nicht ständig hineinläuft oder auf die Zehen tritt.

Einfach durch die Stadt flanieren also, schauen, hören, riechen. Dieses Venedig – das sich so anders anfühlt als andere Städte, das weicher erscheint, verletzlicher, zarter – erkunden und entdecken, dass es aus weit mehr besteht als aus Markusplatz und Rialto und dass es viel, viel mehr ist als die Summe seiner einzelnen Elemente. »In Venedig zu wohnen bedeutet das Gegenteil von Bequemlichkeit«, schrieb Tiziano Scarpa. Man gibt ihm – ausgestattet mit reichlich Erfahrung – vorbehaltlos Recht. Viele Treppen, viele Brücken sind zu überwinden, um von A nach B zu gelangen. Vereinbarte Termine lernt man anders handzuhaben als in einer »normalen« Stadt – es dauert alles ein bisschen länger. Die Fahrt mit dem Vaporetto zum Beispiel, die Notwendigkeit, den Markusplatz in touristischen Hochsaisonen großräumig zu umgehen. Oder das aqua alta, das Hochwasser, das das Tempo noch einmal um einiges minimiert.

Venedig ist nicht nur eine Schule des Schauens und eine, in der gelehrt wird, den eigenen Kräftehaushalt richtig einzuschätzen. Die Stadt verlangt auch einen anderen Umgang mit der Zeit. Sie ist, geografisch bedingt, gewissermaßen resistent gegen die allgegenwärtige Beschleunigung des Alltags.

Doch keine Angst, das einzige, das bei einem venezianischen Entdeckungsspaziergang passieren kann, ist dass er etwas länger dauert als geplant. Venedig ist eine kleine Stadt und irgendwie kommt man immer wieder zu den zentralen Punkten, zu einer Vaporetto-Station oder wenigstens zu einer Bar, in der man sich bei cicchetti, den kleinen Köstlichkeiten, und einem Glas Wein erholen kann.

Man kann dort auch einen Spritz trinken, und sich dabei denken: wenigstens etwas Gutes hat die habsburgische Herrschaft in Venedig hinterlassen. Denn so autochthon das Labyrinth Venedig selbst ist, so hilfreich sind dafür, sich endgültig zu verirren, die von der habsburgischen Verwaltung eingeführten Hausnummern. Die einzigen, heißt es, die das System durchschauen, sind die Postboten. Die tun das allerdings wahrscheinlich auch nur in ihren jeweiligen Sprengeln.

Das System, Häuser zu nummerieren, ist ein Phänomen der Aufklärung. Ordnung und Klassifizierung waren ein Ausdruck der neuen wissenschaftlichen, intellektuellen Weltsicht. Das klingt zwar schön und gut, der eigentliche Grund für Hausnummern war jedoch weitaus pragmatischer: Mit einer gleichzeitig durchgeführten Volkszählung ließ Maria Theresia, Herrscherin über die Lande der Habsburger, die Häuser nummerieren, um solcherart eine «Seelenkonskription» durchzuführen, die es dem Staat fortan möglich machen sollte, lückenlos wehrfähige junge Männer zu rekrutieren. Das System verbreitete sich schnell über ganz Europa und kam mit den Habsburgern 1801 auch nach Venedig. Bis Napoleon fünf Jahre später wieder das Zepter in der Lagune übernahem, hatte man einen Kataster aller Stadtteile begonnen, den man in der Zeit der lombardo-venezianischen Region von habsburgischen Gnaden vollendete. Im Jahr 1841 schließlich nummerierte man die Häuser jedes sestiere durch – eine verwaltungstechnische Leistung, die die Venezianer nach dem Abzug der Habsburger beibehielten.

Sonderbar ist das Ergebnis allemal und unendlich verwirrend, wenn man beispielsweise in der Calle longa Santa Maria Formosa steht und die Hausnummer 6131 abliest und exakt gegenüber 5242. Dafür liegen in der bloß eine Minute entfernten Ruga Giuffa die Nummern 4852 und 4853 einander ganz ordentlich gegenüber. Wie gesagt, das System bleibt schwer durchschaubar – selbst für Venezianer. Einen Straßennamen zu wissen und vielleicht die parrocchia, den Pfarrbezirk, dazu, führt jedenfalls eher zu Ziel.

Dabei ist des Rätsels Lösung im Prinzip einfach: Nummeriert wurde nämlich nicht nach Straßenverlauf, sondern immer ein ganzes sestiere. Das heißt ein Stadtsechstel beginnt bei der Nummer 1 und endet bei der jeweils letzten Hausnummer, was in Castello, dem größten Bezirk, die Nummer 6828 ist. Castello 1 findet der Suchende auf der Fondamenta de Quintavalle auf der Isola di San Pietro, die Nummer 6828 beim Campo San Zanipolo (oder Santi Giovanni e Paolo). Cannaregio 1 bezeichnet den Bahnhof Santa Lucia, Cannaregio 6426 liegt in der Calle delle Erbe am Ponte Rosso über den Rio dei Mendicanti – nur eine Brücke von San Zanipolo und der letzten Hausnummer von Castello entfernt. Hilfreich ist, dass auf einem der auf venezianisch nissioeto oder nizioleto – Leintuch, auf italienisch lenzuolino – genannten weißen Felder zu lesen ist: Ultimo Numero del Sestier de Canaregio.

Nein, dass hier der Stadtteil Canaregio mit nur einem n zu lesen ist und de anstatt dem italienisch korrekten di, verdankt sich keinem Tippfehler, sondern verweist auf eine weitere Orientierungshürde in Venedig: Man hat zwar dem bürokratisch-ordnenden Eifer der Österreicher ein Denkmal gesetzt, indem man das aus fast 30.000 Hausnummern bestehende System unberührt ließ, dafür aber einigermaßen subversiv die Namen der Straßen und Plätze – calli, rughe, rami, campi und campielli – sehr oft im Dialekt belassen. Woher soll ein Fremder wissen, dass er auf dem Stadtplan Sant’Angelo suchen muss, wenn er auf dem großen Platz zwischen Campo Santo Stefano und Piazza San Marco vor dem Hintergrund eines nizioleto San Anzolo liest? Oder dass Santa Croce auch als Santa Crose auftauchen kann und die Calle del Dose eigentlich die Calle del Doge ist (die es im Übrigen auch noch mehrfach in der Stadt gibt)? Apropos Doge: San Marco Nummer 1 ist natürlich der Dogenpalast.

Doch, wie gesagt, das Rätsel Venedig bis ins letzte Detail zu entschlüsseln, kann kaum gelingen. Und vielleicht sollte man nicht einmal den Versuch unternehmen, das zu tun. Vielleicht sollte man sich einfach einmal treiben lassen, hören, dass Venedig anders klingt als andere Städte, sich verirren im Labyrinth, sich irgendwo niederlassen, es den Venezianern gleichtun und einen stärkenden aperitivo trinken und sich ansonsten der Alchemie der Stadt hingeben, in der dieses einzigartige Licht, das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt, selbst die schäbigste Fassade in pures Gold verwandelt.

Nach so vielen Fakten und so vielen Details ist es an der Zeit, im changierenden Gewebe Venedig einfach wieder das Zauberhafte hervorschimmern lassen.

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