Kaffeehaus: Gegenvorschläge zum Latte Macchiato im Pappbecher

Der Mythos ist Wirklichkeit.

Das Kaffeehaus ist eine wunderbare Erfindung. Seit bald vierhundert Jahren ist es die vielleicht erfolgreichste und langlebigste gastronomische Idee, bei der es um nichts als um den Genuss geht. Essen muss der Mensch, schlafen ebenfalls, weshalb Gasthäuser, Restaurants und Hotels sozusagen eine außer Haus verlegte Erfüllung alltäglicher Bedürfnisse sind (auch wenn die Qualität des Gebotenen über dem alltäglichen Maß stehen mag). Beim Kaffeehaus sieht die Sache anders aus. Das zeigt sich schon an dem, worauf Idee und Begriff fokussieren: Kaffee, der kein Nahrungsmittel ist, sondern ein Genussmittel, eine Art Zaubertrank sogar, dem man mittlerweile eine ganze Reihe wohltuender Effekte auf die menschliche Physiologie attestiert.

Das Ambiente, in dem dieses schwarze duftende Geschenk der Götter genossen wird, war deshalb auch immer eines, das eine Aura der Behaglichkeit auszeichnete, in dem es gut roch und warm war, in dem man die Imponderabilien des Alltags für Minuten verbannen konnte. Die Gelegenheit zum Eskapismus wenigstens für die Zeit, die es braucht, einen Fingerhut voll Kaffee zu trinken. Kaffee, gefüllt in einen Pappbecher mit Plastikdeckel, getrunken im Laufen oder beim Autofahren, eingezwängt zwischen Fremden im Bus oder in der Straßenbahn, das ist schlimmer als ein Sakrileg – es ist das Ding ohne sein Wesen, eine seelenlose Angelegenheit.

Die Rettung vor solchem Unsinn ist das Kaffeehaus, das lebendig ist wie eh und je, auch wenn es sich vor allem im Laufe der vergangenen hundert Jahre stark verändert hat. Die viel zitierte menschliche »Botanisiertrommel«, wo sich Intellektuelle, Literaten und Maler, Schauspieler und all deren Kritiker treffen, ist zugegebenermaßen eine schöne nostalgische Reminiszenz. Für das europäische Geistesleben der Gegenwart hat das Kaffeehaus vielleicht noch punktuell Relevanz, jedoch längst nicht mehr in dem Maß, wie man es aus der Kulturgeschichte kennt. Der magische Ort urbaner Kultur, an dem Ideen geboren wurden, wo Literatur entstand, wo die Jungen hingingen, um die Arrivierten zu provozieren aus dem einzigen Grund, sie auf sich aufmerksam zu machen um letztlich selbst in den erlauchten Parnass aufzusteigen, ist Vergangenheit. Literarisch ist denn auch zum Kaffeehaus als einem ideellen Ort, als einem soziologischen Phänomen bereits alles Wesentliche gesagt.

Das Kaffeehaus von heute hat sich als Überlebenskünstler par excellence den Zeitläuften angepasst, verstand es, sich zu verändern und damit zeitgemäß zu bleiben. Das geschah auf sehr unterschiedliche Weise: In einigen alteingesessenen Cafés hat man das über Jahrzehnte gepflegte (und deshalb auch mit einiger Patina versehene) Antlitz renoviert und revitalisiert – manchmal mit glücklicher, manchmal mit nicht ganz so glücklicher Hand, meistens aber doch auf eine Weise, dass die Kaffeehausbesucher gerne wiederkommen. In diesen Cafés wird die eigene Geschichte gepflegt, ehrt man die einstigen berühmten Stammgäste wie Glück bringende Hausgeister, beschwört die Stunden, die sie hier saßen und arbeiteten. Man ist eine Art lebendiges Museum mit Service und zum Angreifen, ohne deshalb grau oder verstaubt zu wirken. Die Klientel setzt sich aus Stammgästen und – nicht unerheblich – Touristen zusammen, wobei Letztgenannte das Kaffeehaus vor allem seiner Historie wegen besuchen.

Andere Cafetiers gingen eigene Wege und erfanden das Kaffeehaus neu, ließen es von zeitgenössischen Architekten und Designern gestalten und schufen damit eine in vielerlei Hinsicht neu definierte Institution. Hier, wo man sich auf keine große Geschichte berufen kann, sind Interieur und gastronomisches Konzept die Hauptdarsteller, die sich einem edlen Kleid gleich um die Gäste schmiegen, sie mit Stil, überlegt ausgewählten Farben und einem ausgeklügelten Beleuchtungskonzept zum Bleiben verführen.

Otto Friedländers Formel vom Kaffeehaus als erweitertem Wohnzimmer lässt sich auf beide Varianten, auf das moderne wie das traditionelle Café anwenden, und zwar ganz gleichgültig, ob sich das Kaffeehaus, das Café oder das Caffè in Wien, Prag, Rom, Budapest, Venedig oder Paris befindet.

Allen in meinem und Harald Eisenbergers Buch Coffee to Stay. Die schönsten Cafés in Europa präsentierten Kaffeehäusern – allen alten und allen neuen, allen mit intellektueller Atmosphäre und großer Geschichte, allen mit zeitgemäßer Coolness oder zeitloser Eleganz – gemeinsam ist eine Innenarchitektur, die grundsätzlich Funktionalität mit einem hohen Maß an Behaglichkeit zu kombinieren versteht. Wie das funktioniert, wie viel Überlegung, Planung, aber auch intuitives Empfinden für Maße und Dimensionen hinter den oft ungeheuer charakterstarken Interieurs von Europas schönsten Kaffeehäusern steht, davon erzählen wir in diesem Buch. Plüschbänke, Thonet-Stühle und Marmortischplatten auf der einen Seite, auf der anderen zeitgenössisches Design aus Holz, Stahl und Sichtbeton; strahlende Kristalllüster und moderne Lichtlösungen; Farben, die Möbel und Hintergründe ins Blickfeld rücken oder zurückweichen lassen; Spiegel an den Wänden, die den Raum zum Vexierbild machen und das warme Licht vervielfachen oder Bilder und Plakate, die eine vollkommen andere, weit intellektuellere Atmosphäre schaffen: Das Kaffeehaus als Spielplatz einer sichtbar werdenden innenarchitektonischen Kreativität, die ohne Frage Raum für Menschen gestaltet. Denn das Kaffeehaus, gleichviel ob warm und behaglich oder klar und kühl, muss für den einzigen ersten ebenso wie für den einzigen letzten Gast einladend sein. Und das muss auch dann noch funktionieren, wenn viele Menschen den Raum füllen.

Abseits der Unkultur des Coffee to go mit seinen eigentümlichen Kaffeekreationen blühen in Europa die Cafés. Das gilt für die geschichtsträchtigen ebenso wie für die zeitgenössischen. Die Prämisse bei der Auswahl von Europas schönsten Cafés war, aus dieser Fülle das Besondere zu filtern.

 

4 x Caffè in Rom

Das Angebot, römischen Streifzügen mit caffè Struktur zu geben, ist von verschwenderischer Fülle und so mag es hilfreich sein, zumindest pars pro toto ein paar Spuren zu legen. Den unvergleichlich besten Espresso bekam ich früh am Morgen im Caffè Sant’Eustachio ganz in der Nähe des Pantheon. Die kleine Bar bedarf keines innenarchitektonischen Schmucks – schlicht, im Stil eines alimentari-Ladens leuchtet außen der Name des Cafés und darunter einfach: il caffè. Für den Espresso schüttet der barista ein Briefchen Zucker in eine Tasse und zaubert dann an seiner Maschine einen himmlischen Espresso mit einer goldbraunen crema, die diese Bezeichnung mit wahrer Berechtigung trägt.

Ebenfalls in Sichtweite der Piazza Rotonda liegt eine römische Institution, ebenfalls schlicht und eher Laden denn Kaffeehaus, aber ebenso erstklassig: Die Tazza d’Oro, die »Goldene Tasse« des Cafetiers Massimiliano Fiocchetto, gehorcht einer simplen Philosophie: qualità, qualità, qualità. In diesem vom Boden bis zur Decke mit Kaffee- und Teepackungen vollgeräumten Laden mitten im Duft frisch gerösteten Kaffees einen schnellen Espresso oder Cappuccino zu trinken, ist ein sehr italienisches Vergnügen.

Behagliche Kaffeefreuden verspricht ein paar Meter vom Campo dei Fiori entfernt das Caffè Farnese. Fußwund vom stundenlangen Umherwandern kann man sich hier niederlassen und die Piazza Farnese bewundern, für Goethe der schönste Platz der Welt. Besonders bei einem caffè della casa – eine nach einem Geheimrezept zubereitete Komposition, die nach Limonen und Gewürzen duftet – wird man mit dem Geheimrat sicher einer Meinung sein.

Den krönenden Abschluss bildet Roms berühmtestes Kaffeehaus: Das Antico Caffè Greco in der via Condotti, die geradewegs auf die Spanische Treppe zuführt. Superlative verbindet es einige auf seinem altehrwürdigen Haupt: Es ist Roms ältestes Kaffeehaus, offiziell gegründet 1760, wahrscheinlich aber schon einige Jahre zuvor eröffnet. Zudem beherbergt das Greco der Welt größte, öffentlich zugängliche Privatgalerie. Dass es außerdem auf eine respekteinflößende historische Gästeliste verweisen kann, verwundert kaum noch. Geschrieben, gelesen, komponiert und diskutiert haben hier Casanova, Goethe und Stendhal, die Brüder de Goncourt und Gogol, Liszt, Bizet und Wagner. Ein Besuch des Antico Caffè Greco gleicht einer Zeitreise in längst vergangene Epochen – als würden an den Marmortischchen, von denen keines dem anderen gleicht, heute noch die Dichter der Vergangenheit sitzen und die Krinolinen der Damen rascheln. Das Greco ist immer voll, es ist also gut, hier früh herzukommen, um die kleinen Salons – einer wird seiner langen, schmalen Form wegen omnibus genannt – mit den zahllosen Originalgemälden aus drei Jahrhunderten gebührend bewundern zu können. Ein caffè in der Linken, ein cornetto in der Rechten eröffnet dann auch schlaftrunkenen Augen die Schönheit dieses bemerkenswerten Caffès.

 

Foto © Harald Eisenberger

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